Die Spitze des Eisbergs

Über Grönland wusste ich bis vor kurzem nicht viel, und von einem Urlaub auf dieser Insel habe ich schon gar nicht geträumt. Aber seit ich Fotos von Dionys Moser, dem Inhaber von Fotoreisen.ch, gesehen habe, liess mich die Destination nicht mehr los. Der Wunsch wurde immer grösser, die eisigen Welten nördlich des Polarkreises mit eigenen Augen sehen zu können. Marcus war schnell überzeugt und so begann die Planung für unsere nächste Reise.

Als Hobbyfotografen wollten wir die Eiswelt natürlich aus allen Winkeln, aus nächster Nähe und bei bestmöglichen Lichtverhältnissen ablichten. Daher war die Zeit der Mitternachtssonne im Juni schnell gesetzt. Nach weiteren Recherchen im Internet war klar, dass private Bootsausflüge im Nu ins Geld gehen würden. Da die von Dionys angebotene Fotoreise unsere Bedürfnisse perfekt abdeckte und eine Individualreise auf Zubucherbasis in punkto Teilnehmerzahl auf den Booten kaum von der geführten Tour abwich, buchten wir schliesslich über das Schweizer Büro. Die Kurzreise führte nach Westgrönland, genauer gesagt nach Ilulissat in die berühmte Diskobucht sowie ins südliche Narsarsuaq, wo mehrheitlich kleinere, dafür leuchtend blaue Eisblöcke im Meer schwimmen. 

Aufgrund überwiegend sonnenhungriger Präferenzen im persönlichen Umfeld wird der Grönlandreisende oft als Exot belächelt. Was wir denn dort machen, wurden wir von vielen gefragt. Als wir ihnen erklärten, dass wir sieben Tage lang Eisberge und Gletscher fotografieren werden, wurden wir definitiv schief angeschaut. Von früheren Reisen nach Island und Argentinien wissen wir aber, dass Eis eine ziemliche Faszination ausüben kann. Was uns in Grönland erwartet? Ganz sicher Eisberge, vielleicht auch Wale, viele Mücken, das Erlebnis der Mitternachtssonne, gigantische Gletscher, frostige Temperaturen und ... wir lassen uns überraschen. Im Dezember buchten wir die Reise und mussten von da an voller Aufregung und Vorfreude bis Mitte Juni abwarten.

Mittwoch, 11. Juni 2014: Zürich – Kopenhagen 

Nach 5.5 Monaten Durststrecke waren wir reif für die Insel, und zwar in jeglicher Hinsicht. Es war zugegebenermassen ein komisches Gefühl, im Hochsommer bei über 30°C wieder die Winterkleider aus dem Keller hervor zu kramen. Aber auch das schafften wir. Beim Packen gaben wir dieses Mal besonders acht, dass wir das Gewichtslimit von 20kg für Reisegepäck resp. 8kg für Handgepäck nicht überschritten, denn bei Air Greenland muss anscheinend jedes Kilo Übergepäck teuer bezahlt werden. 

Um 16:30 Uhr klingelte meine Stiefmutter an der Tür und brachte uns durch den grössten Feierabendverkehr zum Flughafen. Wir waren dankbar dafür, denn alleine beim Anblick des dicken Parkas und der schweren Kamikstiefel, die wir wegen der Gewichtbeschränkung auf Mann / Frau nehmen mussten, sammelten sich schon Schweissperlen auf unserer Stirn. Wir trafen frühzeitig am Flughafen ein und warteten beim Treffpunkt auf den Rest der Gruppe. Zu unserer Überraschung waren die Schweizer Teilnehmer in Minderzahl, mehr als die Hälfte waren Deutsche und Österreicher. Nach dem Gruppen Check-in schlenderten wir zum Gate und warteten auf unseren Flug mit SAS nach Kopenhagen. Wir stellten fest, dass wir uns im Gegensatz zu den anderen wieder einmal typisch Schweizerisch an die Vorschriften hielten… Die meisten Teilnehmer ignorierten das Gewichtslimit beim Handgepäck komplett und kamen damit – um es vorne weg zu nehmen – problemlos durch. Pünktlich begann die Fluggesellschaft mit dem Boarding. Leider wurde bei der Reservation der Sitzplätze keine Rücksicht auf Paare genommen. So sass Marcus auf dem ersten Flug vier Reihen hinter mir. In Dänemark angekommen, kam unser Gepäck relativ schnell und wir marschierten durch den Sicherheitsbereich hinaus. Dionys organisierte uns zwei grosse Taxis, die uns zum nahegelegenen Kastrup Bed & Breakfast fuhren. Nach einem kurzen Spaziergang durch ein Wohnquartier mit vielen kleinen roten Einfamilienhäusern sanken wir in die viel zu weichen Betten in unserer Unterkunft.

Donnerstag, 12. Juni 2014: Kopenhagen – Kangerlussuaq – Ilulissat

Am frühen Morgen reichte es gerade noch für eine kurze Dusche und ein kleines Frühstück, bevor es um 7 Uhr wieder per Taxi zurück zum Flughafen ging. Am Check-in Schalter der Air Greenland erhielten wir dann die unerfreuliche Nachricht, dass unser Flug 2.5 Stunden Verspätung hatte. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sich somit wenigstens unsere Aufenthaltszeit in Kangerlussuaq entsprechend verkürzen würde. Nach einer frühen Tagwache mussten wir nun also vier Stunden am Flughafen totschlagen. Um 11:30 Uhr hob die Boeing 757-200 endlich Richtung Grönland ab. Ich hatte einen Fensterplatz und konnte auf eine faszinierende Schäfchenwolkendecke hinunterblicken, welche dank dem Abendrot in wunderschönen orangen Farbtönen schimmerte. Ein in Sichtweite kommendes Flugzeug hinterliess zudem einen doppelspurigen Kondensstreifen. Die Aussicht war fantastisch, beinahe schon surrealistisch. Zu schade, dass ich meine Fotokamera nicht griffbereit hatte. Nach rund drei Stunden Flug kündigte sich unser Reiseziel an: Unzählige weisse Flecken liessen das Meer aussehen wie geschiedene Milch – Treibeis und Eisberge, die vor der Ostküste Grönlands in Richtung Süden drifteten. Dann folgten die rauhen Küstengebirge, die, je weiter wir ins Landesinnere vorstiessen, immer tiefer in einer endlosen weissen Fläche versanken, bis schliesslich nur noch weiss zu sehen war – das Inlandeis, welches 80% der Insel bedeckt. Die Vorfreude auf die bevorstehende Reise stieg von Minute zu Minute. Nach 4 Stunden 30 Minuten setzte unsere Maschine auf grönländischem Boden auf. Wir landeten in Kangerlussuaq, einem kleinen Örtchen, dessen alleiniger Existenzgrund der einzige internationale Flughafen Grönlands ist. Es befindet sich am Rand des grönländischen Inlandeises und verfügt über keinerlei Strassenverbindungen zu anderen Siedlungen. Wir stiegen aus dem Airbus aus und staunten. Es war ziemlich warm hier. Geschätzt 17°C. Keine zehn Sekunden später wusste ich, weshalb viele Grönlandreisende in ihren Reiseberichten über Mücken schrieben. Am Flughafen wimmelte es nur so von fiesen, kleinen Moskitos. In der Ankunftshalle erkundigten wir uns nach unserem Weiterflug. Trotz einem Aufenthalt von 1 Stunde 40 Minuten buchte uns Air Greenland ohne auch nur mit der Wimper zu zucken auf den letzten Flug des Tages um. Als „Entschädigung” für die erneute vierstündige Warterei bekamen wir einen läppischen Essensgutschein. Dass Air Greenland unzuverlässig ist, davon habe ich ja schon gelesen. Aber dass sie uns trotz einer knapp zweistündigen Aufenthaltszeit auf einem kleinen überschaubaren Flughafen einfach stehen liessen, war nun wirklich die Höhe!

Die Luft im Flughafengebäude war stickig, doch draussen waren die Mücken besonders gesellig und fielen gleich in Scharen über einem her. Zwischenzeitlich wurde unser Flug auf 15:30 Uhr vorverschoben, nur um nachher wieder auf 16:15 Uhr geändert zu werden. Endlich ging es mit einer knallroten 37-sitzigen Dash-8-200 nach Ilulissat. Der Anflug auf die drittgrösste Stadt Grönlands bestach mit einem atemberaubenden Blick auf die in der Diskobucht treibenden Eisberge, auf denen türkisfarbene Pools glitzerten. Bereits 40 Minuten nach dem Abheben landete die Dash sanft auf dem kleinen aber geschäftigen Flughafen der ca. 7000 Einwohner zählenden Stadt. Die Sonne schien auch hier kräftig, nur war die Luft etwas kühler als in Kangerlussuaq.

Nach der Landung verliessen wir das Terminalgebäude und legten die letzten 5 Kilometer per Shuttle Bus zurück. Ilulissat ist das grönländische Wort für "Eisberge" und der Namen ist hier Programm. Der Ort liegt wunderschön an der Mündung des fast 60 Kilometer langen Eisfjordes, der voller riesiger Eisberge vom produktivsten Gletscher der nördlichen Halbkugel ist. Denn der Ilulissat Kangerlua ist ein Phänomen, das weltweit seinesgleichen sucht: Vom Inlandeis schiebt sich der Gletscher Sermeq Kujalleq mit 46 Metern pro Tag in Richtung Fjord und stösst dabei zig Millionen Tonnen Eis ab. 40 Kilometer weiter, an der Öffnung zum Meer, stauen sich die Eisberge an einer Untiefe und füllen den ganzen Fjord mit Eis.

Unser Hotel, das Hvide Falk liegt direkt am Wasser. Mit etwas Nachdruck liess sich die Rezeptionistin, die kaum Englisch sprach, überreden, so dass wir ein Zimmer mit Blick auf die Bucht und die Eisberge bekamen. Klasse! Zeit zum Verweilen hatten wir an unserem ersten Abend jedoch kaum, denn bereits eine Stunde später wurde das grönländische Meeresfrucht-Buffet im Hotel Restaurant eröffnet. Von diversen Fischsorten über Robben-, Rentier- und Walfischfleisch wurde dem Gast hier alles geboten. Abgesehen von meinen ethischen Prinzipien in Bezug auf Robben- und Walfischfleisch hielt ich mich auch im Hinblick auf die bevorstehende Bootsfahrt bei der Speisewahl zurück und beschränkte mich auf Lachsbrote sowie ein paar Früchte.

Nach dem Abendessen reichte die Zeit gerade noch aus, um die Kameras zu rüsten und uns für die nächtliche Bootsfahrt umzuziehen. Mit einem dunkelblauen VW-Bus ging es die letzten Meter hinunter zum Hafen. Die Mitternachtsfahrt fand auf einem dieser urigen, hübsch anzusehenden roten Fischkutter statt, welchen Fotoreisen für uns exklusiv gechartert hatte. Wir hüpften auf das Schiff namens ESLE und schon tuckerte es von dannen. Kaum hatten wir den Hafen hinter uns gelassen, war das Fotofieber entfacht. Alle Gäste griffen zu ihren Fotoapparaten und das Klicken der Kameras sollte bis zum Ende unserer Reise ein ständiger Begleiter sein. Das Boot bahnte sich seinen Weg zwischen den Eisriesen hindurch, die links steil hinauf ragten. Das Meer war spiegelglatt, einzig durch den Zusammenprall mit Eisstücken konnte es zu abrupten Rucken und eindrücklichem Krachen kommen.

Wir nahmen Kurs gen Süden, entlang weisser Giganten, die sich in einem weiten Feld bis in den fernen Horizont ausbreiteten. Die kalte, klare Luft, das intensive Licht und der weite Blick zeigten uns, dass wir in einer anderen Welt angekommen sind. Wir schipperten an Eisriesen vorbei, während der Finger an der Kamera nicht mehr zur Ruhe kam. Im warmen Licht der immer tiefer stehenden Sonne, erlebten wir ein schier unbeschreibliches Spiel von Licht und Schatten. Das Eis schimmerte in unglaublichen Farben. Die Sonne stand inzwischen sehr tief und warf ihr goldenes Licht auf die weissen Eisberge. Der endlose Sonnenschein bis tief in die Nacht hinein liess einem die Kälte (vorübergehend) vergessen. Zum greifen nah schien da die Diskoinsel, die immerhin fast 100 Kilometer weit entfernt war. Kein Wölkchen trübte den Himmel, so dass wir in vollen Genuss der Mitternachtssonne kamen. Es war ein einmalig schönes Erlebnis und schon bei unserer ersten Rundfahrt verschlug es uns förmlich die Sprache. Dennoch überkam mich ab Halbzeit die Müdigkeit, schliesslich war es in Schweizer Zeit bereits 04:30 Uhr. Es wurde empfindlich kalt zwischen den Eisbergen und trotz drei Schichten Oberbekleidung, drei Schichten Hosen, Mütze und Handschuhe begann ich zu schlottern. Ich stand vorne am Bug und klammerte mich, gegen die Sonne blinzelnd, an einem Becher heissen Tee. Während ich meine Augen kaum mehr offenhalten konnte, fotografierte Marcus, mittlerweile mit zwei Kameras, eifrig weiter. Zwischendurch ruhte ich mich auf einem Stuhl auf dem Deck aus. Sofort fielen meine Augen zu, doch das zunehmende Frösteln hinderte mich vor dem Einschlafen. So schön die Fahrt auch war, so froh war ich, als die Tour gegen 02:00 Uhr zu Ende ging und ich kurz darauf ins warme Bett sinken konnte. 

Freitag, 13. Juni 2014: Ilulissat

Um 09:15 Uhr klingelte mein Handywecker. Ich kroch aus dem Bett, öffnete die Vorhänge und blinzelte mit müden Augen einem weiteren wunderschönen Sonnentag entgegen. Wir schlüpften in unsere Kleider und suchten den Frühstücksraum auf. Trotz der verbleibenden halben Stunde bis zum Frühstücksende war das Buffet fast leer. Ein Müsli und ein Brot mit etwas Käse konnte ich mir gerade noch krallen, bevor die letzten Schalen auch noch weggeräumt wurden. Dionys organisierte uns danach einen Flug mit Air Zafaris über das Inlandeis. Es war zwar ein kostspieliges Unterfangen und leider nicht im Reisepreis inbegriffen, aber Dionys schwärmte dermassen davon, dass wir spontan einwilligten. Wir sicherten uns zwei Plätze auf dem ersten Rundflug, holten unsere Fotokameras im Zimmer und schon ging es los Richtung Flughafen. Zusammen mit zwei weiteren Teilnehmern unserer Gruppe stiegen wir in die 2 Stempel Motor Maschine. Marcus nahm aufgrund seiner Grösse in der mittleren Reihe Platz. Da auch die anderen zwei die mittlere bzw. hinterste Reihe bevorzugten, „opferte“ ich mich für den engeren Sitz neben dem Piloten. Zum Fotografieren war dieser Platz allerdings ideal, denn es hatte ein kleines rundes Fenster, das ich während dem ganzen Flug offenlassen durfte. Nach einem kurzen Safety Briefing hob die kleine Maschine vom Boden ab. Wir flogen über die Hügel und Berge östlich von Ilulissat zum Sermeq Kujalleq, dem produktivsten Gletscher der Nordhalbkugel.

Schrift als auch Bild vermögen es nicht, die Grösse dieser schier unendlichen Masse an aufgetürmtem Eis zu beschreiben. Auf den ersten Blick war Grönland eine riesige, weisse Fläche. Doch als wir direkt über dem Eis flogen, sah ich die Farben. Blaue Schmelzwasserstreifen zogen über die Eiskappe, weisse Felder waren von Bächen unterbrochen, von Schluchten gefurcht und von türkisfarbenen Seen gesprenkelt. Es war ein atemberaubender Anblick. Diese Grösse, diese Formen, diese Spitzen, diese Furchen, diese Spalten …! Es war schöner und imposanter als ich zu träumen wagte.

Aufgrund der hohen Flügelkonstruktion hatten wir einen idealen Ausblick auf die Eismassen unter uns. Ich knipste ein Foto nach dem anderen, musste aber dabei höllisch aufpassen, dass ich die Kamera wegen dem Sog nicht zu weit aus der Lucke hielt. Der Pilot verringerte die Flughöhe und überflog die Abbruchkante so tief, wie es die Sicherheitsbestimmungen noch zuliessen. Das rasant schnelle Abschmelzen des Eises aufgrund der Klimaerwärmung hat dazu geführt, dass die Eiskante heute auf dem Land liegt. Ganz in der Nähe der Gletscherkante entdeckten wir ein besonders imposanter Gigant in leuchtend blau, der wie eine zu Eis erstarrte Pyramide aussah. Auf dem Rückweg passierten wir den Kangia Eisfjord, wo die Eisberge kalben und ihre Reise Richtung Diskobucht beginnen. Bedingt durch die rege Gletscheraktivität war der Fjord vollständig mit Eis und Eisbergen gefüllt. Die vielen schwimmenden Eisstücke sahen aus, als wären sie mit Puderzucker bestäubt worden. Wir umkreisten majestätische Eisberge, auf welchen sich stellenweise türkisblaue Seen gebildet hatten. In Letzteren schwammen manchmal sogar noch weisse Eisschollen, die einen perfekten Kontrast auf dem Foto bildeten. Nach einer Stunde setzte der Pilot die Maschine wieder auf dem Boden auf. Der Flug war absolut grandios und jeden Franken wert. Denn während des Besuches in Ilulissat kann man sich nur schwer vorstellen, welch enorme Fläche das grönländische Inlandeis bedeckt und wie gross der ausserordentlich produktive Kangia Eisfjord ist. Grönland ist von oben genauso faszinierend wie vom Wasser.

Nach dem Flug zogen wir uns auf’s Zimmer zurück und genossen erstmals ein bisschen Ruhe auf dieser Reise. Am liebsten hätte ich mich bis zur Nasenspitze unter der warmen Bettdecke versteckt und gleichzeitig die kalte, klare Luft ins Zimmer gelassen. Doch auch wenn die Mücken hier nicht ganz so zahlreich vertreten waren wie in Kangerlussuaq, so durfte man die Balkontüre trotzdem nie lange offenlassen. Schade, die frische Luft wäre herrlich gewesen.

Um 19:00 Uhr waren wir mit Thomas aus unserer Reisegruppe zum Abendessen verabredet. Das Personal sprach nur wenig Englisch und so kam, nach langem Warten, auch noch das falsche Essen... Viel Zeit zum Vorbereiten der Mitternachtsfahrt blieb uns daher nicht mehr, aber es reichte. Um 21:40 Uhr trafen alle vor dem Hotel ein, von wo aus es wieder mit dem blauen Minibus zum Hafen hinunter ging. 20 Minuten später standen wir an Deck der ESLE und genossen die Parade der Eisberge. An diesem Abend tuckerten wir nordwärts, denn der Kapitän sah am Morgen einen grossen Eisberg mit Torbogen, den er uns gerne zeigen wollte. Wieder hatten wir rund um die Uhr Sonnenschein. Dennoch konnten wir den Wandel des Lichts während der 24 Stunden, in denen es im Juni 300 Kilometer nördlich des Polarkreises schien, beobachten. Während es um die Mittagszeit noch „blau und hart“ war, so tauchte die Mitternachtssonne die ohnehin schon unglaubliche und faszinierende Landschaft in ihr besonderes Licht. Zwischendurch schob sich ein schmales Wolkenband vor die tiefstehende Sonne. Das Licht wurde weich und warm und liess die Naturkulisse in Pastellfarben fast wie in einem Traum aussehen.

Ziellos, wie es schien, drehte der Kapitän seine 4-Stunden Runde zwischen den Eisbergen. Wir fuhren an besonders grossen Eispalästen vorbei, deren Grösse sich nicht auf Bildern festhalten liess. Die Masse war umso beeindruckender, als dass nur die Spitze der Eisberge ersichtlich war, während die restlichen 7/8 der Fantasie überlassen waren. Die bizarren Süsswassergebilde aus Eis und Schnee waren schwimmende Kunstwerke der Natur und Abfallprodukte eines riesigen Gletschers zugleich. Mal waren die Eisberge ganz weiss, mal türkis schimmernd, wenn sich gefrorenes Schmelzwasser eingeschlossen hatte. Einen Wal gab es leider nicht zu sehen, aber ich tröstete mich mit der Tatsache, dass auch die Mücken keine Gäste dieser Mitternachtstour waren. Die Zeit im Fjord verging wie im Fluge. Nach diesem erlebnisreichen Tag fiel ich müde ins Bett, wohlwissend, dass der Wecker in nur fünf Stunden wieder klingeln wird.

Samstag, 14. Juni 2014: Ilulissat

Viel zu früh läutete der Wecker einen neuen Tag ein. Ich hätte locker noch ein paar Stunden Schlaf vertragen können. Ein erster Blick aus dem Fenster zeigte, dass ein Schichtwechsel in der Bucht stattgefunden hatte – neue gigantische Eisberge hatten sich in die Bucht gedrängt und die Szenerie gänzlich verändert. Es herrschte Rushhour in der Diskobucht. Wie kam es dazu? Die Abbruchstücke treiben zunächst frei im Fjord, denn dort hat der Meeresarm eine Tiefe von 1200m. An der Mündung des Fjordes stranden die Eisberge allerdings auf einer unterseeischen Moräne. Es entsteht ein Rückstau der Eisberge in die Diskobucht. Nur die kleineren Eisberge oder abgebrochene Stücke der Giganten schaffen es über die Kante und treiben ins offene Meer hinaus. Doch selbst diese Stücke sind noch so gross, dass sie auf ihrer langen Reise erst auf der Höhe von New York endgültig schmelzen und man vermutet, dass einer dieser Eisberge auch der Titanic zum Verhängnis wurde.

Auf dem heutigen Tagesprogramm stand neben dem obligaten Abendprogramm auch eine dreistündige Bootsfahrt mit einem kleinen Fischerboot auf dem Programm. Dionys erklärte uns nach dem Frühstück seine bewährte Fototechnik. Es klang kompliziert und anstrengend, sodass ich diese Übung gerne Marcus überliess. Mit unserer Ausrüstung ging es an diesem Vormittag zu Fuss zum Hafen. Dort angekommen, fragte Dionys bei den Fischern nach, wer für ein „Taschengeld“ in die Diskobucht fahren würde. Schnell waren Fischer und geeignete Boote gefunden. So stiegen wir zusammen mit Thomas ins zweite Fischerboot und tuckerten hinaus in die Bucht. Die begehrten Fotoobjekte waren diesmal nicht die grossen Eisberge, sondern kleine filigrane Stücke. Zwar versprach der blaue Himmel einen weiteren tollen Urlaubstag, aber für die kleinen Fischerboote schwamm zu viel Treibeis in der Bucht. Unsere Fahrt durch das dichte Eisfeld war von spontanen Kurvenmanövern und dem Krachen der Miniatureisberge an den Bug der Miniaturtitanic geprägt. Etwas mulmig war mir schon dabei, zumal Dionys uns vorher noch erklärte, dass die scharfen Eiskanten die Fischerboote leicht aufschlitzen und zum Sinken bringen können. Trotz der vielen Eisstücke war es schwierig, die richtigen Objekte zu finden. Der Fischer wollte uns sogar ermutigen, auf eine instabile Eisscholle zu steigen. Wir lehnten dankend ab. Als wir endlich ein geeignetes Stück entdeckten, ging die Knipserei los. Knipsen war definitiv das richtige Wort, denn gute Bilder waren in diesem Fall auch ein bisschen Glücksache. Marcus lehnte über die Bootskante, legte die Kamera in die Hand, welche er knapp über der Wasseroberfläche hielt, und knipste mit der anderen Hand wild drauf los. Dieser Winkel verschaffte dem Bild eine neue Perspektive. Die Fotos zeigen, dass Eisberge sowohl Giganten als auch zierliche Diamanten sein können. Natürlich produzierten wir viel „Abfall”, aber die paar wenigen guten Fotos lassen sich sehen. Wir hatten viel Spass beim Fotografieren, auch wenn es anstrengend war und sogar zu einer Schnittwunde führte (Thomas). 

Nach der Bootsfahrt gönnten wir uns nur eine kurze Pause im Hotel, bevor wir die Wanderung zur Hauptattraktion und Weltkulturerbe der UNESCO in Angriff nahmen. Es ist der Kangia Eisfjord, der das Eis zum Meer in die Diskobucht transportiert. Unser Weg führte mitten durch das verschlafene Örtchen mit seinen kleinen, bunten Fertighäusern, vorbei an einem staubigen Fussballplatz und zig angeketteten Schlittenhunden. Es war traurig mitanzusehen, wie diese Tiere hier gehalten werden. Ohne Bewegungsfreiheit und Unterstand, grösstenteils sogar ohne Wasser vegetierten die Hunde vor sich hin. Überall im Ort war lautes Geheul zu hören, kein Wunder bei diesen katastrophalen Umständen. Bedrückt ging ich weiter. Nach ungefähr 1.5 Kilometer erreichten wir den Startpunkt des angepeilten „gelben Wanderweges“. Der Holzweg führte stetig auf und ab und hielt dabei immer neue beeindruckende Ausblicke auf den Icefjord bereit. Den ersten Fotostopp legten wir oberhalb eines kleinen Strandes auf Steinfelsen ein. Ein Schild warnte vor dem Gang zum Strand hinunter aufgrund Tsunamis. Für die nächsten Fotos kletterten wir weiter auf grosse Felsen hinauf. Von dort aus hatten wir eine unglaubliche Weitsicht über den Fjord - eine fantastische Eislandschaft offenbarte sich vor unseren Füssen. Ich konnte den Blick kaum lösen. Wie eine Schicht geschlossene Eisdecke sahen die dicht an dicht liegenden Eisberge aus. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich die Umrisse der einzelnen Blöcke, zwischen denen das blaue Wasser des Fjords schimmerte. Während Marcus und Thomas zum Fotografieren auf einen weiteren Felsen mit toller Sicht auf den Fjord kraxelten, legte ich eine Pause ein und genoss die Aussicht, die Einsamkeit und die Stille, die nur durch die Geräusche der Eismassen unterbrochen wurde. Bei bis zu 20°C entfaltete sich an diesem Tag in Ilulissat die ganze Pracht des Nordens. Dazu der fantastische Ausblick auf den Eisfjord, endloser Sonnenschein und nur wenig Mücken... Was will man mehr? Um 18:00 Uhr waren die letzten Bilder im Kasten. Es war höchste Zeit, uns auf den Rückweg zu machen.

Am Abend ging es zum dritten Mal mit der ESLE auf Erkundungstour. Grönland zeigte sich immer noch von seiner besten Wetterseite. Das Schiff nahm nordwestlichen Kurs und schipperte uns vier Stunden durch die Welt der Eisriesen, wovon nur die Spitze ersichtlich war, während 7/8 unter der Wasseroberfläche verborgen lag. Im Vergleich zu den Tagestemperaturen wurde es empfindlich kalt in der Nacht. Doch die weissen Eisberge vor einem Himmel in Pastellfarben von blau in verschiedene Rottöne übergehend mit dem Vollmond am klaren Himmel entschädigten für die Kälte. Feine Schleierwolken schmückten den Himmel. Wir passierten einige Eispaläste, dessen Formen und geschliffene Oberfläche an die Weisse Wüste in Ägypten erinnerten. In dieser Nacht fotografierten wir für einmal nicht so viel und liessen stattdessen diese raue Gegend auf uns wirken. Grönlands Natur aus Wasser, Eis und Sonne ist eine Wunderwelt mit ganz eigenem Reiz. Die Ursprünglichkeit und unverbrauchte Einsamkeit, die unglaublich klare Luft und die gefrorenen Schönheiten waren einfach grandios. Ich war dankbar darüber, dass uns der Chauffeur auch nach der Bootsfahrt um 2 Uhr wieder zurück ins Hotel fuhr. Obwohl die Mitternachtssonne in Grönland einen besonderen Gemütszustand erzeugte und die herkömmliche Vorstellung von Zeit hinfällig werden liess, weil der Tag kein Anfang und kein Ende nahm, so war ich nach dem Ausflug doch ziemlich erschöpft. Die Einheimischen schienen jedoch von der Dauersonne beflügelt zu sein... Die Kinder spielten noch immer auf der Strasse und für die Jugendlichen war die (wahrscheinlich einzige) Disco / Bar in ganz Ilulissat der grosse Anziehungspunkt. Auch Marcus machte die Nacht zum Tag. So stellte er sich samt Fotoausrüstung auf die Terrasse vor unserem Zimmer im Hvide Falk und widmete sich ausgiebig der Langzeitbelichtung. Die ganze Nacht über tuckerten viele kleine Motorboote aus dem Hafen hinaus. Als sich Marcus nach mehrstündigem Einsatz auf dem Balkon mit dem Resultat endlich zufrieden gab, war ich schon lange im Land der Träume.

Sonntag, 15. Juni 2014: Ilulissat

Wieder riss uns der Wecker aus den Träumen. Draussen schien erneut die Sonne von einem strahlend blauen Himmel auf die Eisberge. Wir schlüpfen in unsere Kleider und begaben uns ins Restaurant. Ich beneidete die Sonne, die offensichtlich keine Probleme mit dem Schlafmangel hatte und auch an diesem Morgen kräftig durch das Fenster in den Frühstücksraum des Hotels schien und meine müden Augen blinzeln liess. Leider blies ein Wind an diesem Tag. Infolgedessen kräuselte sich die Wasseroberfläche, so dass die gewünschten Fotos der kleinen Eiskristalle inklusive Spiegelung im Wasser nicht möglich waren. Wir beschlossen erst einmal abzuwarten. Also gingen wir zurück auf’s Zimmer und holten noch etwas Schlaf nach. Auch drei Stunden später war keine Wetterbesserung in Sicht. Dionys legte spontan einen kurzen Workshop über die Bildbearbeitung mit Nik Tools ein. Innert weniger Minuten entstand ein sehr spektakuläres Foto, das mit der Wirklichkeit jedoch nicht mehr allzu viel gemeinsam hatte. Obwohl die Bilder zugegebenermassen toll aussahen, bleiben wir unserem bisherigen Stil weiterhin treu und versuchen die Stimmung wahrheitsgetreu widerzugeben. 

Der Fahrt mit dem grossen Fischkutter am Abend stand nichts im Wege. Warm eingepackt im Zwiebellook fanden wir uns pünktlich am Treffpunkt ein. Ein letztes Mal quetschten wir uns mit den voluminösen Parkas und den sperrigen Fotorucksäcken in den VW-Bus hinein. Ich war gespannt was mich heute erwartete und ob mich die Tour auch beim vierten Mal noch ins Staunen versetzen würde. Und genauso kam es auch. An diesem Tag war es leicht bewölkt, wodurch die Eisriesen in einem ganz anderen Licht als bei den Touren zuvor erstrahlten. Ich freute mich über die Wolken, da sie der Szenerie eine räumliche Tiefe gaben. Ich fühlte mich in eine fremde Welt versetzt. Der Wind hatte sich in der Zwischenzeit gelegt, so dass sich ganz Ilulissat in der Diskobucht spiegelte. Der Auslöser unserer Kameras rauchte schon nach kurzer Zeit. Das Wasser war bedeckt mit grossen und kleinen Eisstücken, die leise aneinander klirrten. Die Rushhour in der Diskobucht war ein traumhafter Anblick, den niemanden auf dem Boot kalt liess. Die Einsamkeit und Ruhe wurden regelmässig von einem lauten Knall unterbrochen, ausgelöst von den massigen Eismassen oder wenn unser Boot gegen die schwimmenden Eisblöcke prallte. Letzteres ging zusätzlich mit abrupten Rucken einher. Die ESLE bahnte sich seinen Weg zwischen den Eisriesen hindurch, die links steil hinauf ragten. Wir nahmen nochmals südlichen Kurs, wo die Eisberge besonders gross waren. Die Wolken und die Mitternachtssonne liessen die Diskobucht an diesem Abend vergolden. Es war einer der Orte und Momente, die sich wirklich unvergesslich einprägten: Es ist der reale Traum von Grönland – kitschig schön. Leider trübte ein Missgeschick unsererseits diese fantastische Stimmung. Marcus stiess während dem Fotografieren mit dem Filter an der Reeling an. Ein kurzer „Klick“ ertönte, der Filter löste sich vom Adapterring und sank auf nimmer Wiedersehen auf den Meeresgrund hinab. Unsere Stimmung war geknickt. Zu gross war die Enttäuschung über den Verlust des Filters mitten auf der Reise. Thomas war so freundlich und lieh uns seinen Filter in den kommenden Tagen mehrmals aus. Obwohl wir wussten, dass wir uns schon bald nicht mehr über dieses Malheur ärgern würden, konnten wir unsere Enttäuschung in jenem Zeitpunkt nicht ablegen. Ich versuchte mich abzulenken und mir in Erinnerung zu rufen, welch Privileg es doch eigentlich ist, Grönland mit seinen vielen Eisbergen und der schroffen Landschaft in der Mitternachtssonne erleben zu dürfen. Die Eislandschaft war atemberaubend schön und zog in Zeitlupentempo an uns vorbei. Ich beobachtete die schön schimmernden und in der Sonne glitzernden Eiskolosse. Je länger die Fahrt dauerte, desto schöner und weicher wurde das Licht. Viele kleine Eissplitter schaukelten wie Würfelzucker im blauen Wasser und bildeten den perfekten Vordergrund. Es war wie im Traum. Bis weit nach Mitternacht standen wir an der Reeling und waren der in einem geheimnisvollen Licht getauchten vorbeiziehenden Landschaft verfallen. Einzig der Gedanke an den Verlust des Filters holte mich immer wieder in die Realität zurück. 

Montag, 16. Juni 2014: Ilulissat – Nuuk - Narsarsuaq

Nach einem verschlafenen Blick auf die Uhr drehte ich mich noch einmal für weitere 10 Minuten um. Dann mussten wir definitiv raus aus den Federn, denn wie wir mittlerweile wussten, ist das Grönländische Personal schnell beim Abräumen des Buffets. Nach dem Frühstück mussten wir leider bereits die Koffer packen, denn es ging weiter zum zweiten Ziel auf dieser Reise. Da wir bisher schon so viel Schönes gesehen hatten, sah ich Narsarsuaq mit gemischten Gefühlen entgegen. Wird es mithalten können mit der Schönheit des Eisfjordes in Ilulissat?

Mit einer feuerroten Propellermaschine hoben wir von Westgrönland ab. Der Flug verlief ruhig und bot schöne Ausblicke auf das Meer, die Küste und die Eisberge. Erster Zwischenstopp legten wir in Kangerlussuaq, dem Drehkreuz Grönlands, ein. Dieses Mal war unser Aufenthalt wirklich nur ganz kurz. Wegen Betankung des Flugzeugs mussten wir aber die Maschine verlassen. Warum wir auch das vorher mühsam verstaute Handgepäck mitnehmen mussten, konnte niemand so genau nachvollziehen. Auch neben dem Flugzeug liess uns die Stewardess nicht warten. Wir watschelten also zurück zum Flughafengebäude und konnten, kaum angekommen, wieder auf dem Absatz drehen. Erneut quetschten wir unser Handgepäck und Jacken in das viel zu klein dimensionierte Gepäckfach. Sogar meine Bauchtasche musste verstaut werden, was total lächerlich war. Wir flogen weiter in die grönländische Hauptstadt Nuuk und anschliessend nach Narsarsuaq. Wieder bot sich uns ein fantastischer Blick auf die karge aber gleichwohl wunderschöne Landschaft und das Meer, auf dem einzelne Eisberge in den Süden unterwegs waren – genau wie wir. Narsarsuaq heisst übersetzt „die grosse Ebene“ und ist das Tor zum Süden. Die Land- und Startpiste von Grönland’s zweit grösstem internationalen Flughafen endet nur wenige Meter vor dem Fjord mit den blauweiss schimmernden Eisbergen. Es war ein ungewöhnlicher Anblick. 

Schon am Flughafen wurden wir von den Einwohnern Grönlands begeistert begrüsst. Dutzende Moskitos stürzten sich wie Mini-Vampire auf uns und nur das fleissige Wedeln mit der Hand hinderte sie daran, uns gänzlich auszusaugen. Dann luden wir unsere Koffer ins Auto und gingen zu Fuss vom Flughafen zum Hotel, welches wir bereits nach 10 Minuten erreichten. Irgendwo zwischen Flughafen und Hotel lag das imaginäre Zentrum des Ortes. Ich hatte den Eindruck, am Ende der Welt angekommen zu sein. Wie hineingeworfen wirkten die weit verstreuten bunten Häuschen, in denen die rund 250 Einwohner leben und arbeiten. 

Unser Hotel war einst eine Kaserne und längst renovationsbedürftig. Trotzdem war es die bestmögliche Unterkunft in diesem verschlafenen Ort. Verpflegungsmöglichkeiten gab es ausserhalb des Hotels keine. An diesem Abend stand ein Meeresfruchtbuffet auf dem Menü Plan des Hotels, weshalb vorher keine anderen Speisen serviert wurden. Aufgrund mangelnder Zeit war uns das Buffet zu teuer, etwas essen mussten wir jedoch noch vor der Bootsfahrt. Aber Not macht bekanntlich erfinderisch. So kaufte ich im Restaurant ein Brot, welches wir zusammen mit Trockenfleisch und Nutella aus der Schweiz in unserem Zimmer verspeisten. Als ich unsere Thermosflaschen mit Heisswasser auffüllen lassen wollte, kam die nächste böse Überraschung. Eine Kanne heisses Wasser kostete 5 EUR und auch das Internet, welches die Grönländer notabene gratis von Dänemark zur Verfügung gestellt bekommt, wurde pro Stunde verrechnet. In Grönland musste alles teuer bezahlt werden. Zähneknirschend liess ich die Thermosflaschen an diesem Abend nochmals auffüllen. An den darauffolgenden Abenden verzichteten wir jedoch in Anbetracht der leicht wärmeren Temperaturen darauf.

In Narsarsuaq ging es bereits um 19.00 Uhr auf’s Boot, da man im südlichen Teil von Grönland, der unterhalb des Polarkreises liegt, keine arktische Mitternachtssonne mehr hat, dafür aber merkbar helle Nächte. Grönland ist ein nahezu wegloses Land, nur in den Orten liegen schmale Bänder aus Teer und Schotter. Sie enden am Ortsrand. Dahinter findet Fortbewegung meist in Booten statt, längere Distanzen überwindet man mit dem Flugzeug. Auch wir legten die ersten Meter mit dem VW-Bus zurück, dann stiegen wir um auf das knallrote Puttut. Dieses Schiff war deutlich kleiner als die ESLE und zum Transport von 12 Personen konzipiert. Unsere Gruppe war jedoch grösser, weshalb wir uns beim Fotografieren ständig auf den Füssen herum trampelten. 

Wir verliessen den Hafen und tuckerten Richtung Fjord. Auf dem ersten Abschnitt waren nur wenige Eisberge zu sehen. Doch die Anzahl nahm von Minute zu Minute stetig zu. In Südgrönland waren die Eisberge kleiner als im Westen, aber nicht weniger faszinierend. Die besonders blau leuchtenden Eisberge konnten wir schon von weitem in der Bucht erkennen. Überhaupt traten die Eisberge in einem erstaunlich breiten Farbspektrum auf. Natürlich hatte auch das Wetter einen Einfluss auf die Farbintensität. Denn während das Wetter in Westgrönland fast zu gut war und wir uns ein paar Wolken am Himmel gewünscht hätten, so waren die Lichtverhältnisse im Süden zum Fotografieren perfekt. Die Wolkenlandschaft spiegelte sich zusammen mit den Eisbergen auf der glatten Wasseroberfläche. Man könnte meinen, die Fotos seien gefälscht, so unwirklich war die Stimmung... Der Fischkutter zog im spiegelglatten Wasser zwischen den Eisbergen seine Bahnen. Bei besonders fotogenen Stücken fuhren wir einmal, manchmal sogar zwei- oder dreimal um den Eisberg herum. Das Resultat waren Hunderte von Fotos, die im Sekundentakt entstanden und kaum voneinander zu unterscheiden waren. Das erschwert die Selektion der besten Bilder Zuhause, aber darüber zerbrachen wir uns während der Reise nicht den Kopf... Immer wieder konnten wir dem gewittergleichen Donnern und Grollen lauschen, welches durch Eisabbrüche und die Entstehung von Rissen im Eispanzer ausgelöst wurde – beeindruckend und beängstigend zugleich diese Geräuschkulisse. Eisabbrüche und Rotationen können das Boot beträchtlich zum Schwanken bringen. Doch die Grönländer kennen die Zeichen des Eises und beherrschen die Boote, daher ist eine Schifftour ein ungefährliches Erlebnis. Nach vier Stunden war die Fahrt zu Ende. Zufrieden mit der Ausbeute des Tages ging es zurück ins Hotel, wo ich müde in mein Bett sank.

Dienstag, 17. Juni 2014: Narsarsuaq

An diesem Morgen erschienen wir rechtzeitig im Frühstücksraum – das dachten wir zumindest, denn Frühstück hätte es gemäss offizieller Information der Rezeptionistin bis 10 Uhr geben sollen. Auf Anfrage nach mehr Brot fauchte mich die Grönländerin im Restaurant an, dass ich spät sei. Ich schaute sie unverständlich an. Unklar ist, ob das Personal hier einfach eine halbe Stunde früher ihre Schicht beenden wollte oder ob die Rezeption eine Fehlinformation herausgab. Jedenfalls schloss das Buffet bereits um 9:30 Uhr. So füllte ich schnell den Teller und packte zusätzlich noch ein Brot für zwischendurch ein. Das ist eigentlich nicht meine Art, aber nach diesen Erlebnissen hatte ich keine Skrupel mehr. Auch die anderen Gäste packten eine Zwischenverpflegung ein. Der nächste Programmpunkt startete erst um 16:30 Uhr. Für uns war es eine gute Gelegenheit, unser Schlafkonto ein wenig aufzubessern. Schliesslich waren mit Ausnahme der vorigen Nacht nie mehr als fünf Stunden Schlaf pro Nacht drin – man könnte ja etwas verpassen...

Die Bootsfahrt fand an diesem Abend nicht auf dem Puttut statt, sondern mit kleinen Fischerbooten. Wieder formten wir mit Thomas eine Dreiergruppe, hüpften ins erste Motorboot und los ging’s auf Eisbergjagd. Sobald der Bootsführer Tempo herausnahm, um langsam an die Eisberge heran zu fahren, wurde die Fahrt zur Schaukelpartie. Ich war zwar (noch) nicht seekrank, hatte aber ein mulmiges Gefühl im Bauch. Wir wollten alle nichts anbrennen lassen und nahmen sicherheitshalber ein Reisemedikament. Dann klapperten wir die besonders schönen Eisberge in der Bucht einen nach dem anderen ab. Wunderbare geschwungene Formen, Linien, Kanten, Bögen, glattes Eis, gelöchertes Eis wie Schweizer Käse - all das war vorhanden. Kein Eisberg glich dem Anderen, jeder war ein Unikat. Der ständige Schmelzprozess änderte die Motive laufend und liess sie innerhalb weniger Stunden unwiderruflich verschwinden. 

Die Zeit im Fjord verging wie im Fluge. Um 19:00 Uhr gingen wir an Land und stapften für eine Crevettensuppe über grüne, weiche Flechten den Hang hinauf, von wo aus wir eine tolle Sicht auf die Bucht genossen. Dem Süden verdankt Grönland übrigens seinen Namen, denn ein mildes Klima, eine vergleichsweise üppige Vegetation und sogar bis zu 7m hohe Bäume lassen das Land wirklich grün erscheinen. Die Suppe, zubereitet vom Inhaber des Touristenbüros, war hervorragend und wärmte zudem noch auf. Nach dem Essen machte Marcus noch eine Langzeitbelichtung von einem kleinen Wasserlauf mit dem Eisfjord im Hintergrund ehe es wieder auf’s Boot ging. Erneut mussten unsere Kameras 2.5 Stunden Sonderschichten schieben. Tiefblaues Wasser, weisse und leuchtend blaue Eisberge, die Türkise Farbe des Eises unter Wasser, die braunen Berge ringsum – Grönland ist ein unglaubliches Naturerlebnis.

Mittwoch, 18. Juni 2014: Narsarsuaq

Erstmals regnete es auf unserer Reise in Grönland. Deshalb fiel unsere Bootsfahrt am Vormittag im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. Daher entschlossen wir uns, noch etwas nach- bzw. vorzuschlafen – so richtig war ich mir da nicht mehr sicher, auf jeden Fall war ich müde. Gegen Abend liess der Regen nach, so dass unserer letzten Fahrt nichts im Wege stand. Nach dem kurzen Transfer zum Hafen sprangen wir an Board.  Auch an diesem Abend herrschten ideale Fotobedingungen und die Eisberge zeigten sich nochmals in unglaublicher Farbintensität. Das ging über dunkles Grau und strahlendes Weiss bis hin zu karibischen Blautönen. Manch einer könnte meinen, wir hätten bei der Fotobearbeitung geschummelt... Auch Eisstücke wie in Glas gegossen erhoben sich aus dem Wasser. Andere waren auf der Schattenseite hellblau und auf der Sonnenseite mit besonderem Glanz, jedoch langsam vor sich hinschmelzend. Eine fantastische Stille lag über dem Fjord. Herrlich! Immer wieder hörten wir es im Inneren des Eises grollen und knallen, als ob Sprengsätze gezündet wurden. Man spürte förmlich den hohen Druck, der in den gepressten Eismassen herrschte. Manche Eisberge entstanden auch, indem sich Schollen aus Packeis übereinander schoben und verkeilten. Die Form der Eisberge variierte stark. Besonders imposant fand ich die schnurgeraden Linien und Kanten in den Eisblöcken. Die meisten Eisberge drehen sich im Laufe ihrer Existenz mehrfach und die früheren Brandungslinien bilden dann oft tiefe Einschnitte und Gräben im Eis. Auch diverse Torbögen und Höhlen waren zu sehen. Erneut musste der Auslöser unserer Kamera in dieser Nacht Sonderschichten schieben und konnte lediglich verschnaufen, wenn ich meine Hand zum Aufwärmen in die warmen Jackentaschen steckte. Zum Schluss der Bootsfahrt legte ich die Kamera beiseite, stand schweigend da und sog die letzten Bilder dieser zauberhaften Landschaft in mich auf, bevor wir zurück zum Hafen tuckerten.      

Donnerstag, 19. Juni 2014: Narsarsuaq - Kopenhagen

Der letzte Morgen stand vor der Tür. Da unser Flug erst für 15.00 Uhr geplant war, fragte ich an der Rezeption nach einem Late Check-Out. Doch es kostete und zwar ordentlich, wie könnte es in Grönland auch anders sein... 50% einer vollen Übernachtung für ein paar Stunden mehr im Zimmer, das war es mir dann doch nicht wert. Nach dem Frühstück ging es erstmals zum Flughafen, um unser Gepäck aufzugeben. Danach setzten wir uns in den Aufenthaltsraum des Hotels und verbrachten die Stunden mit Spielen und Fotos sortieren. In Grönland nahm der Begriff „Warten“ eine völlig neue Dimension an. Ich kann mich an keine Reise erinnern, auf der wir im Verhältnis zur effektiven Flugzeit so viel Zeit mit Warten verbracht haben, wie auf dieser Reise. Es war eine neue Erfahrung, an die ich mich lieber nicht gewöhnen möchte. 

Mit einer von Air Greenland gecharterten Maschine hoben wir schliesslich pünktlich Richtung Kopenhagen ab. Auf dem Flug blickten wir ein letztes Mal auf die Schönheit und wunderbaren Strukturen des Landes. Nach 4.5 Stunden Flugzeit landeten wir um 23.20 Uhr Ortszeit in Dänemark. Nach den sonderbaren Erlebnissen in Grönland bezüglich Extrakosten bin ich mir mittlerweile fast sicher, dass die Air Greenland Flüge von und nach Kopenhagen absichtlich auf den frühen Morgen respektive späten Nachmittag gelegt wurden. So besteht für die Passagiere aus Europa keine Möglichkeit zur An- resp. Weiterreise am gleichen Tag, was gezwungenermassen zu zwei Übernachtungen in Dänemarks Hauptstadt führt.

Bei Ankunft im Kastrup Bed & Breakfast zeigte unsere innere Uhr erst 20 Uhr. Nun war unser Schlafrhythmus endgültig aus dem Takt geraten. Ich konnte immerhin ein paar Stunden vor mich hindösen, nur Marcus lag die ganze Nacht wach. 

Freitag, 20. Juni 2014: Kopenhagen - Zürich

Vier Stunden später ging es mit dem Taxi bereits zurück zum Flughafen und anschliessend mit der SAS nach Zürich. Obwohl ich hundemüde war, konnte ich auf dem Flug in die Schweiz kein Auge zutun. Müde, aber voll von unvergesslichen Eindrücken und Erlebnissen landeten wir an diesem Freitag Morgen wieder in Zürich. 

Obwohl die Reise mit dem vielen Fotografieren, den häufigen Ausflügen und dem Standortwechsel keine Erholung war, hat es doch den Kopf vom Alltag komplett geleert. Die Fahrten unter der Mitternachtssonne entlang der riesigen Eiswände, die unterschiedlichen Stimmungen, aber auch die im Süden unendlich blauen Eisberge waren für uns fantastische Erlebnisse. Man könnte ja meinen, dass nach sieben Tage Eisberge fotografieren einer wie der andere aussieht. Doch das ist nicht der Fall. Man findet immer wieder neue Formen, anderes Licht und andere Farben. Ausserdem bietet der Ortswechsel in der Hälfte eine weitere Perspektive von Grönland. Wir wurden mit einer Fülle von visuellen Leckerbissen konfrontiert, so dass Speicherkarten zum glühen gebracht und Back-Up-Medien in Terrabyte-Grösse gefüllt wurden. 

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Oh Schottland - Ferien in Gummistiefeln

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Tanzende Lichter